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Die Zeit Nr. 23 - 3. Juni 1994


WISSEN


Wie würden Sie am Sonntag wählen?
Aus der Antwort ihrer Musterwähler können Demoskopen eigentlich keine Schlüsse ziehen. Trotzdem stimmen die Prognosen oft.
Warum?

Hellsehen wäre billiger

Von Wolfgang Blum

Im Superwahljahr 1994 haben nicht nur Wahlkampfmanager und PR-Strategen dicke Auftragsbücher, sondern auch die Meinungsforscher. Woche für Woche füttern sie die Medien mit neuen Graphiken. Jedesmal stoßen sie bei ihren Hochrechnungen auf irgendeinen Trend, den die Journalisten dann genüßlich ausschlachten. Doch wie verläßlich sind die Zahlen? Können die Institute mit der berühmten Sonntagsfrage (Wie würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?) herausfinden, wer am Wahltag der strahlende Sieger sein wird?

"Wahlvorhersagen sind der reine Schwindel", meint Fritz Ulmer. Der Mathematikprofessor an der Universität Wuppertal hält die Prognosen für "ein wissenschaftlich verbrämtes Orakel der Neuzeit".

Bei Umfragen stützen sich die Demoskopen auf einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung. Aber wie kommt dieser Querschnitt zustande? 1000 oder 2000 Personen zu ermitteln, die ein Spiegelbild der rund 60 Millionen Wahlberechtigten darstellen, ist mathematisch unmöglich. Dazu spielen zu viele Faktoren und deren Kombinationsmöglichkeiten eine Rolle: Alter, Geschlecht, Einkommen, Religion, Bildung, Wohnort, Beruf. Die Institute bemühen sich daher gar nicht erst, ihre Probewähler nach irgendwelchen Kriterien auszusuchen. Sie losen einfach aus, wen sie befragen, und nennen das Ergebnis einen "repräsentativen Querschnitt".

Bei diesem Lotterieverfahren kann natürlich Kurioses herauskommen, etwa hundert Prozent FDP-Wähler. Doch solche Ausreißer sind extrem unwahrscheinlich. Daß die im Losverfahren Erkorenen genauso abstimmen wie das gesamte Wahlvolk, ist indes ebenfalls ein seltener Zufall. Um klare Aussagen treffen zu können, bestimmen Statistiker daher sogenannte Vertrauensintervalle, in denen sich die gesuchten Größen mit hoher Wahrscheinlichkeit bewegen. Ein Beispiel: Eine Umfrage unter 1000 West- und 1000 Ostdeutschen ergibt für die CDU/CSU 40, für die SPD 40, für die FDP 9 und für Bündnis 90/Die Grünen 7 Prozent. Um eine zu 95 Prozent richtige Vorhersage zu treffen, sind bei den großen Parteien Schwankungen um plus oder minus 4 Prozent einzukalkulieren, bei den kleinen plus/minus 2,5 Prozent. Die Demoskopen müßten daher schreiben : 36 bis 44 Prozent der Wähler sind für die Union, 36 bis 44 für die Sozialdemokraten, 6,5 bis 11,5 für die Liberalen und 4,5 bis 9,5 für die Grünen; Irrtumswahrscheinlichkeit 5 Prozent. Aber wen interessiert schon eine Prognose, die derart ungenau ist? Dabei fangen diese Spannweiten von fünf bis acht Prozent nur den "Lotterieschaden" auf, der durch die zufällige Auswahl der Befragten entsteht. In den Hochrechnungen schlummern noch andere Unwägbarkeiten, die die Fehlermarge vergrößern.

Wollen die Institute den Lotterieschaden bei den großen Parteien auf ein, bei den kleinen auf ein halbes Prozent drücken, müßten sie rund hunderttausend Bürger aufsuchen. Aber dann wären Umfragen unbezahlbar. Die immer noch vage Voraussage – CDU/CSU 38 bis 42 Prozent, SPD 38 bis 42, FDP 8 bis 10 und Grüne 6 bis 8 – ist bei 2000 Probewählern (1000 West, 1000 Ost) rein statistisch bereits zu mehr als 50 Prozent falsch.

Da melden die Medien lieber gleich exakte Zahlen, häufig sogar mit einer Stelle hinter dem Komma. "Eine ‚Repräsentativumfrage‘ ohne gleichzeitige Angabe des Fehlerspielraums ist so irreführend wie die Reklame einer Landeslotterie, durch den Kauf von Losen werde man Millionär", sagt Fritz Ulmer.

Die Demoskopen kennen die statistischen Schwankungen bei Prognosen. Seriöse Unternehmen teilen die Fehlerschranken darum ihrem Auftraggeber mit. Ob der sie veröffentlicht, ist jedoch seine Sache. Emnid, das beispielsweise auch den Spiegel mit Zahlen beliefert, gab vor der Bundestagswahl 1987 folgende Prognose bei einem Notar zu Protokoll: CDU/CSU 42,3 bis 49,2 Prozent, SPD 32,9 bis 41,1, FDP 5,8 bis 10,2, Grüne 5,8 bis 10,2. Genausogut hätte sich das Institut beglaubigen lassen können, daß der Bundeskanzler zwischen 100 und 200 Kilogramm wiegt.

Gegen Ulmers Kritik verteidigen sich die Meinungsforscher mit dem Hinweis, sie hätten noch ganz andere Schwierigkeiten zu überwinden als den Lotterieschaden beim Auslosen der Probewähler. Nur macht auch das ihre Zahlen nicht verläßlicher: Manche Interviewpartner, so klagen sie, antworteten mit falschen Angaben oder überlegten es sich bis zur Wahl noch einmal anders. Rund ein Viertel der Befragten verweigere gar die Auskunft. Und von den übrigen hätten sich viele noch nicht entschieden, wem sie ihre Stimme geben. Um nicht allzuweit danebenzutippen, veröffentlichen die Meinungsforscher daher nicht die Ergebnisse einer Umfrage, sondern "gewichten" die ermittelten Zahlen erst noch. Konservative sind ihrer Meinung nach zum Beispiel oft distanziert und zurückhaltend. Daher sei zu erwarten, daß sich unter denen, die keine Antwort auf die Sonntagsfrage geben, verstärkt Unionwähler tummeln. Die CDU/CSU werten die meisten Demoskopen deswegen nachträglich auf. Es sei denn, die Analyse der üblicherweise sechzig bis achtzig Fragen umfassenden Erhebungsbögen ergibt beispielsweise, daß sich viele evangelische Stadtbewohner mit eher geringem Einkommen unter den Interviewten befanden. Dann wird der SPD ein Bonus gutgeschrieben.

Elisabeth Noelle-Neumann, langjährige Chefin des Allensbacher Institutes, spricht von einer Korrektur von bis zu elf Prozent. Ihr Mitarbeiter Karsten Pöhl meint, richtige Vorhersagen könnten die Demoskopen nur aufgrund jahrelanger Erfahrung treffen. Denn die Gewichtung sei "mehr Kunst als Wissenschaft". Von ausgezählten Fragebögen jedenfalls bleibt wenig übrig. Für Ulmer haben die Erhebungen eine Alibifunktion: "Vermarktet werden ausschließlich die Stammtischschätzungen der Wahlforscher."

Das Ergebnis der letzten Wahl ist stets die beste Prognose

Der Mathematikprofessor räumt zwar ein, daß die Institute die Resultate von Bundestagswahlen bisher jedesmal einigermaßen genau vorhergesagt haben. Doch liege das nicht an den Künsten der Meinungsforscher, sondern an der politischen Stabilität der Bundesrepublik. Die Stimmanteile der Union und der Liberalen schwanken seit 1965 um weniger als fünf, die der Sozialdemokraten um weniger als zehn Prozent (bei der Wahl 1990 sind dabei nur die alten Bundesländer berücksichtigt). Das Vertrauensintervall allein für den statistischen Fehler beim Auslosen der Interviewpartner ist bei der CDU/CSU damit bereits größer als die Spannweite ihrer tatsächlichen Prozentzahlen in 25 Jahren. Ulmer zieht daraus den Schluß: "De facto sind Wahlprognosen nichts anderes als die Fortschreibung früherer Ergebnisse nach der Methode: Man nehme das letzte Wahlresultat und passe es Pi mal Daumen der aktuellen Situation an."

Mit Landtags- oder Kommunalwahlen hingegen tun sich die Meinungsforscher schwerer. Bei den hessischen Kommunalwahlen im letzten Jahr zum Beispiel kürten sie die SPD vorab zur Siegerin – die Sozialdemokraten erlebten ein Debakel. Blamiert hat sich die Zunft auch bei der Wahl in der ehemaligen DDR im März 1990. Alle kündigten einen Sieg der SPD an – die Union gewann. "Änderungen haben die Institute noch nie richtig vorhergesagt", sagt Ulmer. Schlägt die politische Großwetterlage um, oder tauchen neue Parteien auf, wie vor wenigen Jahren die Republikaner, liegen die Forscher mit ihren Prognosen regelmäßig daneben.

Trends, wie sie die Demoskopen gern verkünden, sind ebenfalls mit Vorsicht zu genießen. Denn wie sollten sich die Launen des Zufalls von realen Verschiebungen der Wählergunst unterscheiden lassen? "Was sich wirklich abspielt, das weiß kein Mensch", resümiert Ulmer.

Um so bedenklicher ist, daß sich nicht nur die Medien, sondern auch die Politiker auf die Zahlen der Meinungsforscher stützen. Die Parteien geben selbst reihenweise Umfragen in Auftrag, um dem Wählerwillen auf die Spur zu kommen. Und allzuoft richten sie ihre Politik nach deren Ergebnissen aus.

Auch wenn ihre Prognosen nicht stimmen, können Demoskopen Wahlen sehr wohl beeinflussen. Liegt die FDP zum Beispiel nach ihrer Prophezeiung unter fünf Prozent, gibt ihr möglicherweise mancher CDU-Anhänger seine Zweitstimme, um sie über die Fünfprozenthürde zu hieven.

Wie Vorhersagen auf die Psyche des Wählers wirken, darüber haben amerikanische Wissenschaftler zwei – einander widersprechende – Theorien aufgestellt. Nach dem "Bandwagon-Effekt" (alle laufen hinter dem Wagen mit der Musik her), wollen die meisten auf der Seite des Siegers sein und wählen die vermeintlich beliebteste Partei. Das Gegenstück ist der "Boomerang-Effekt": Viele machen ihr Kreuzchen aus Mitleid bei einer schwach eingeschätzten Gruppierung.

Wer auch immer von Prognosen profitieren mag, die Meinungsforscher selbst zählen garantiert dazu. Kaffeesatzleser und Astrologen können da nur vor Neid erblassen.

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