Wahl in Nordrhein-Westfalen 2005

Tal der Tränen und Karl Marx

Sozialdemokraten und Grüne kommen aus dem Tal der Tränen nicht heraus, ihre 39-jährige Herrschaft könnte demnächst zu Ende gehen. Das jedenfalls verkünden die Meinungsforscher, die vorgeben die Stimmung des Volkes im Urin zu spüren und die in Pressemitteilungen laufend über den Zustand ihrer Harnblase berichten. Seit langem melden sie steigende Pegelstände und einen weit verbreiteten Unmut, was sie als Vorboten für einen politischen Wechsel interpretieren. Angeblich sollen über 50% der Wahlberechtigten für einen Blasensturz plädieren. Daran vermochte auch Münteferings (Neu)Inszenierung von "Das Kapital" wenig zu ändern, die weniger an Karl Max als an einen Rundumschlag eines Jungsozialisten erinnert. Damit wollte er (Müntefering) augenscheinlich die demotivierte SPD-Basis wachrütteln: Brach liegende Kumpels im Ruhrgebiet sollen Dankbarkeit für ihre Hartz IV - Besoldung demonstrieren und dies mit einer Stimme für Steinbrück abgelten. Wohl nicht zu unrecht befürchtet der große Vorsitzende Müntefering, der lange Marsch durch das Tal der Tränen habe viele Genossen so geschwächt, dass sie am Wahltag die Haustür wegen des stürmischen Gegenwindes aus Berlin nicht aufkriegen und zu Hause bleiben.

Wahlbeteiligung ist die Archillesferse jeder Prognose

Clement vermochte vor fünf Jahren nur gut 55% an die Urnen zu bewegen. Könnten es diesmal noch weniger werden? Das ist die Kardinalfrage in diesem Wahlkampf. Lange wurde berichtet, etwa die Hälfte der Wahlberechtigten hätte sich noch nicht entschieden, ob sie zur Wahl gehen und falls ja, für wen sie wählen werden. Jetzt hört man wenig Verbindliches, aber viel Abstruses - es werden Zahlen zwischen 58% und 86% kolportiert. Den Vogel abgeschossen hat Infratest-dimap, die Prozentzahlenschmiede von ARD und WDR. Wenn man deren Verlautbarungen für bare Münze nähme, dann müsste die Wahlbeteiligung am 18. Mai innert 60 Minuten um 11% gestiegen sein: Unmittelbar vor dem zweiten Fernsehduell seien 25% unentschieden gewesen, nachher aber nur noch 14%. Solche Angaben suggerieren dem naiven Demoskopie-Konsumenten eine Wahlbeteiligung von 75% vor dem Duell, und von 86% danach. Zahlen, welche die die kühnsten Albträume der CDU erfüllen würden und von denen selbst die SPD nicht zu träumen wagt! Wenn die Meinungsforscher bezüglich Wahlbeteiligung kein Bein auf die Erde kriegen oder wagen, welchen Wert haben dann ihre Angaben über die Parteistärken, die darauf basieren und mit denen sie unermüdlich die Gerüchtebörse füttern?

Der Nährwert der letzten Umfragen

Hinzu kommt, dass die letzten Umfragen unter Berücksichtigung der von den Meinungsforschern selbst eingeräumten Fehlerbandbreiten kaum einen Informationswert aufweisen (siehe Infoboxen über statistische Fehlertoleranz am Ende des ZDF-Politbarometer Extra und LänderTrend NRW Mai III). Die neueste Umfrage von Forsa, die von n-tv und RTL herausposaunt wurde, und die von zahlreichen Wiederkäuern auf deren Lautsprechern bis in die hintersten Winkel Deutschlands getragen wird, ist geradezu absurd.

Datum Quelle
(Institut)
CDU SPD Grüne FDP
19.05.05 RTL & n-tv
(Forsa)

40% - 46%

33% -39%

4% - 10%

4% - 10%
15.05.05 WDR
(Infratest-Dimap)

41,9% - 48,1%

33,9% - 40,1%

6,1% - 8,9%

6,1% - 8,9%
13.05.05 ZDF
Politbarometer

41% -47%

32% - 38%

7,4% - 10,6%

5,4% - 8,6%

ZDF, ARD+WDR, n-tv und RTL dachten als Auftraggeber der Umfragen natürlich nicht im Traum daran, die Umfrageergebnisse in dieser Form zu veröffentlichen. Fehlerbandbreiten findet man allenfalls gut versteckt im Kleingedruckten oder am Ende der Berichte der Meinungsforscher: Da wird z.B. groß verkündet:

Die FDP gibt leicht nach auf 7%.
Wenn das wenigstens eine Halbwahrheit wäre, könnte man es noch schlucken. Aber die ganze Wahrheit ist:
Die FDP gibt leicht nach auf irgendwo zwischen 4% und 10%
,
also auf irgendwo zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. Oder es wird mit Pauken und Trompeten verkündet:

Die SPD verbessert sich leicht auf 36% und die CDU sinkt auf 43%.
Nebenbei wird diskret die statistische Fehlertoleranz von ±3% vermerkt (siehe Infoboxen rechts). Was das konkret bedeudet und wie das Umfrageergebnis zu lesen ist - nämlich
die SPD "verbessert" sich leicht auf irgendwo zwischen 33% und 39%
und CDU "sinkt" auf 40% bis 46% -
wird kein Meinungsforscher zu Papier bringen. Was soll denn der arme Steinbrück damit anfangen - etwa händeringend zwischen 33% und 39% hin- und herrudern? Und was hat Rüttgers für Optionen bei dieser Offenbarung? Entweder wird er schizophren oder manisch depressiv - seine christliche Leitkultur hilft ihm jedenfalls auch da nicht weiter.

Sesselkleber, Langzeitarbeitslose und Agenda 2010

Eigentlich sind die persönlichen Noten für Steinbrück sehr gut, jedenfalls weit besser als diejenigen für Rüttgers. Nur gehört er (Steinbrück) dummerweise der falschen Partei an. Könnte er fliegend die Fahne wechseln, wie Harald Schmidt in seiner Show räsonierte, dann könnte er an seinem Sessel kleben bleiben. Weil dem nicht so ist, sieht die CDU ihre Chance gekommen, ihrem Schicksal als Langzeitarbeitslose in NRW zu entrinnen und einen Ministerpräsidentenstuhl zu ergattern, der besser dotiert ist als Hartz IV und eine Riesterrente entbehrlich macht. Sollte es diesmal die CDU wieder nicht packen, dann bleibt ihr in NRW nur noch die Agenda 2010: Sich während den nächsten fünf Jahren mit Ein-Euro-Jobs über Wasser zu halten und jede Arbeit anzunehmen.

Wahltag ist Zahltag

Das hat auch Heide Simonis schmerzlich erfahren. Alle professionellen Auguren haben ihr im Wahlkampf die besten Noten verbürgt - ungleich bessere als ihrem Herausforderer Carstensen. Auch haben sie ihr vor der Wahl hoch und heilig versprochen, landauf-landab sei keine Wechselstimmung auszumachen. Das hätten sämtliche Umfragen übereinstimmend ergeben. Entsprechend wurde die SPD immer über der Union porträtiert und gehandelt - 40% gegen 37%. Die Wechselstimmung hat dann aber trotzdem stattgefunden und die CDU ließ die SPD weit hinter sich. Heidi rieb sich die Augen wund und Carstensen lachte sich ins Fäustchen.

Die Mär vom Stimmungsumschwung kurz vor der Wahl

Die Zunft der Demoskopen hatte sich in Schleswig-Holstein (wie üblich) rechtzeitig aus dem Staube gemacht. Mit der noblen Begründnung, in der Woche vor der Wahl sollten die Öffentlichkeit nicht weiter mit Zahlensalat gefüttert werden - zur Darmberuhigung. Denn eine solche Diät bis zum Wahltag kann bei Zahlengäubigen zu heftigem Durchfall führen, wenn die ersten Hochrechungen über die Fernsehschirme laufen. Diese rücksichtsvolle Abstinenz besorgt auch den Spielraum (Narrenfreiheit) für das spätere Alibi. Nach einem Prognosen-Fiasko zucken die Demoskopen jeweils kurz die Achseln und zitieren den "plötzlichen" Stimmungsumschwung in letzter Minute, den sie nicht mehr zu orten vermochten ..... Sie hätten immer darauf hingewiesen, dass die Wahlberechtigten sich erst kurz vor der Wahl entscheiden, ob sie sich an die Prognosen halten wollen oder nicht. In demoskopischer Prosa tönt das so:

"Rückschlüsse auf das tatsächliche Wahlverhalten bei der nächsten Wahl sind nur begrenzt möglich, da immer mehr Wahlberechtigte sich erst kurz vor dem Wahltermin entscheiden, ob sie zur Wahl gehen und für welche Partei sie stimmen werden." (Quelle: Infratest-Dimap)

In den Knackpunkten wird dem plötzlichen "Stimmungsumschwung" etwas die Hosen herunter gelassen. In den unten folgenden Computersimulationen wird live vorgeführt, dass man einen Stimmungsumschwung von ein paar Prozentpunkten mit handelsüblichen Meinungsumfragen (etwa 1000 Befragte, Wahlbeteiligung 50 - 60%) gar nicht messen kann. Das ist aus mathematisch-statistischen Gründen unmöglich. Die Messungenauigkeit von Meinungsumfragen ist selbst unter optimalen Bedinungen meist grösser als der zu ermittelnde Trend. Mit einer Elle kann man nun einmal keine Millimeterbruchteile messen. Wenn das trotzdem "gemacht" wird, dann ist klar, dass Schummler am werkeln sind. Die vermarkteten Trends der Meinungsforscher haben nichts mit Statistik, aber viel mit Kaffeesatzlesen zu tun.

Nach dem Fiasko in Schleswig-Holstein bekreuzigten sich die Auguren kurz, sagten Amen und Tschüss Heidi! Und der ganze Demoskopen-Tross setzte sich ab - Richtung NRW. "Was kümmert uns unser Geschwätz von gestern" sagt sich die Zunft. Die eigentliche Geschäftsgrundlage sei doch die starke Nachfrage nach Zahlensalat und nicht dessen Nährwert. Und schließlich werden kassenwirksame Leistungen auch dann ins Trockene gebracht, wenn Prognosen baden gehen.

Lehren fur NRW

Was ergibt sich hieraus für Lehren hinsichtlich NRW? Mit guten Noten verleiteten die Demoskopen Heide Simonis dazu, ganz auf ihr Mundwerk zu pokern und sie setzte es als Stalinorgel ein. Doch die demoskopische Milchmädchenrechnung ging nicht auf und ihr Mundwerk endete in der Hose. Droht Steinbrück ein ähnliches Schicksal, der aufrecht durch die die Lande pirscht und unverdrossen wie Geroldsteiner sprudelt, aber die SPD wie ein Klotz am Bein mit sich herumschleppt? Wie ein Blick auf die folgende Tabelle zeigt, sollen die Umfrageergebnisse seit April ziemlich konstant geblieben sein. Die SPD schwächelte um 35-36% herum, die CDU protzte mit 44-45%, während sich FDP und Grüne zwischen 7% und 9% tummeln. Anfangs April kam Rotgrün auf 44% und Schwarzgelb auf 51%, in der letzten Umfrage eine Woche vor der Wahl stand es kaum verändert 44,5% zu 50,5%.

Doch wie verläßlich sind diese Zahlen, wie sind sie zustande gekommen? Es wird nachfolgend bewiesen werden, dass diese Ergebnisse viel zu schön sind um wahr zu sein. Sie weisen nämlich die charakteristischen Spuren von kosmetischen Eingriffen auf. Fazit: Diese Zahlen sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht Ergebnisse zur Sonntagsfrage. Es handelt sich um demoskopische "Konsenszahlen". Über den Wahlausgang vermögen sie daher auf statistischer Grundlage nichts auszusagen.

 

Alle Tipps der Meinungsforscher seit April

Datum Quelle
(Institut)
CDU SPD Grüne FDP Sonstige Befragte
(Wahlbet.1)
Fehler-
bandbreite
19.05.05

RTL & n-tv
(Forsa)

43% 36% 7% 7% 7% 1326
(58%)
6%
15.05.05 WDR
(Infratest-Dimap)
43% 37% 7,5% 7,5% 5%

1000
(77%, irreführende Angabe)

2,8 bis 6,2%
13.05.05 (Infas) 43% 36% 7% 8% 6% 750
(-)
-
13.05.05 ZDF
Politbarometer
44% 35% 9% 7% 5% 1062
(etwa 60%)
3,2 bis 6%
12.05.05 WDR
(Infratest-Dimap)
43% 37% 8% 7% 5% 1000
(keine verwertbare Angabe)
2,8 bis 6,2%
11.05.05 stern & RTL
(Forsa)
45% 34% 7% 7% 6% 1017
(keine Angabe)
6%
04.05.05 ARD & WDR
(Infratest-Dimap)
45% 35% 8% 7% 5% 1010
(keine Angabe)
2,8 bis 6,2%
03.05.05 Spiegel
(Emnid)
44% 34% 9% 7% 6% - -
01.05.05 stern & RTL
(Forsa)
45% 35% 7% 7% 6% 1109
(etwa 50%)
6%
01.05.05 WDR
(Infratest-Dimap)
45% 34% 9% 7% 5%

1000
(69%)

2,8 bis 6,2%
27.04.05 Die Welt
(Emnid)
45% 34% 10% 6% 5% 1000
(-)
-
22.04.05 Emnid 45% 35% 9% 6% 5% 1053
(-)
-
17.04.05 WDR
(Infratest-Dimap)
45% 35% 8% 7% 5% 1000
(79%, irreführende Angabe)
2,8 bis 6,2%
08.04.05

ZDF
Politbarometer

46% 36% 8% 6% 4% 1039
(50%)
3,2 bis 6%
07.04.05 WDR
(Infratest-Dimap)
45% 34% 9% 7% 5% 1000
(77%, irreführende Angabe)
2,8 bis 6,2%
07.04.05 Emnid 45% 35% 9% 7% 4% 1063
(-)
-
06.04.05 ntv
(Forsa)
45% 36% 8% 6% 5% 1009
(-)
6%
  1. Ein beträchtlicher Anteil der Wahlberechtigten macht bei der Sonntagfrage keine verwertbaren Angaben (Unentschlossene (weiß nicht), Nichtwähler). Unter Wahlbeteiligung wird der prozentuale Anteil der Wahlberechtigten in der Umfrage verstanden, die angeben, dass sie an der Wahl teilnehmen werden und sich für eine Partei entschieden haben und zudem auf Nachfrage hin erklären, sie könnten sich nicht vorstellen, ihre Meinung noch zu ändern. Diese Nachfrage, die zwangsläufig zu einer Reduktion der Anzahl der verwertbaren Interviews in einer Umfrage führt und damit deren Aussagekraft reduziert, wird nicht von allen Instituten gestellt. Wird diese Nachfrage nicht gestellt, so werden die Antworten von de facto noch Unentschlossenen trotzdem berücksichtigt, was natürlich unzulässig ist.
    Über das Wahlverhalten der (noch völlig) Unentschlossenen und insbsondere der großen Gruppe der demoskopischen "Abstinenten" (Nichterreichbare, Interviewverweigerer und -abbrecher) ist damit nichts ausgesagt.