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Jeannette Goddar
Das Wahlvolk wird immer wankelmütiger
Der Versuch, die Wahrheit zu finden: Wie Meinungsforschungsinstitute arbeiten
Die Stimmen gegen den Kanzler waren gerade gezählt, da flackerte
zwischen all den eiligen Meldungen zur Vertrauensfrage eine andere Zahl
auf dem Bildschirm. Der Bundeskanzler sei wieder populärer als seine
Herausforderin, hieß es, und dass Gerhard Schröder im direkten
Vergleich 40, Angela Merkel nur 36 Prozent der Stimmen vereine.
Ermittelt hatte das Berliner Meinungsforschungsinstitut infratest dimap
im Auftrag der ARD. Nun gibt es in Deutschland bekanntlich gar keine
Direktwahl, was jeden Vergleich zwischen konkurrierenden Wahlkämpfern
etwas absurd erscheinen lässt. Diese Veröffentlichung machte aber noch
aus einem anderen Grund stutzig: Wann war denn das Vertrauen in den
Kanzler gestiegen? In der Minute, als seine Fraktion ihm - notgedrungen
- das Misstrauen aussprach? War Schröder in der Gunst der Bürger
gestiegen, weil seine Strategie der Installation vorzeitiger Neuwahlen
aufgegangen war? Natürlich nicht: "Wir sind schnell - aber so schnell
nun auch wieder nicht", sagt Richard Hilmer, Leiter von infratest.
Tatsächlich hatten die Interviewer die Umfrage unter 1.000 Menschen
zwei und drei Tage vor der Abstimmung im Bundestag durchgeführt. Aber
nimmt das auch der Zuschauer wahr, der das Ergebnis Stunden später
präsentiert bekommt?
Das kommt wohl zumindest zum Teil darauf an, ob es ihnen mitgeteilt
wird. Tatsächlich machen sämtliche Erkenntnisse von Wahlforschern
nämlich nur Sinn, wenn man auch erfährt, wann genau eigentlich wonach
genau gefragt wurde. Zu jeder Sonntags-, Montags- oder Mittwochsumfrage
wird den Auftraggebern - meist Fernsehsender oder Parteien - ein Paket
an Detailinformationen mitgeliefert: Wann war der Erhebungszeitraum,
wie groß war die Stichprobe, welche Fragen wurden gestellt? "All das
sind unverzichtbare Informationen", gesteht Hilmer, "sie werden aber
nicht immer weitergegeben."
Dort findet man meist auch eine Zahl, die den Wert der immer
zahlloser werdenden Wahlumfragen insgesamt in Zweifel stellt: Die so
genannte Fehlermarge. Sie kommt zu Stande, weil die Zufallsauswahl der
am Telefon befragten Bürger nicht im engeren Sinne repräsentativ für
den Bevölkerungsdurchschnitt ist. Statistisch ist nämlich extrem
unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen, dass das Los bei 1.000
Befragten 1.000 Schröder- oder 1.000 Merkel-Wähler erwischt - oder
irgendein anderes Verhältnis, das von der Realität weit entfernt ist.
Nach Angaben der Wahlforschungsinstitute beträgt diese Fehlermarge nach
gründlicher "Bereinigung" der Daten 1,5 bis drei Prozent. Der
Wuppertaler Professor Friedrich Ulmer, ein exponierter Kritiker von
Wahlprognosen, verortet sie wesentlich höher. Auf seiner Website
"www.wahlprognosen-info.de" veröffentlicht er Computersimulationen, die
zuweilen vier Prozent nach unten oder oben ausschlagen - was
zusammengenommen eine Differenz von acht Prozent ausmacht.
Das allerdings würde den Wert der meisten Umfragen ad absurdum
führen: Vier Prozent nach oben oder unten lassen die SPD in aktuellen
Umfragen zwischen 23 und 31 Prozent, die CDU zwischen 40 und 48 Prozent
liegen. Selten sind die Präferenzen der Wähler so eindeutig, dass einem
das Ergebnis - wie zurzeit - immer noch ein klares Bild vermittelt. Wer
aber will schon jede Woche hören, dass alles noch offen ist, weil man
nichts genau vorhersagen kann? Besonders groß ist der
Unsicherheitsfaktor bei der Frage, ob es diese oder jene kleine Partei
schafft: Zwischen einem Ergebnis samt Fehlermarge von 3,5 bis 6,5
Prozent (kleinere Parteien habe kleinere Margen) liegt eine Welt -
nämlich mittendrin die Fünf-Prozent-Hürde.
Den Demoskopen ist aber nicht nur die Statistik, sondern auch der
immer unberechenbarer werdende Wähler zuweilen im Weg. Erinnert man sie
an die Zeiten vor 30 Jahren, bekommen sie glänzende Augen. Mehrere
Monate lieferten sich Bundeskanzler Willy Brandt und sein
Herausforderer Rainer Barzel 1972 ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Am Ende war
das Volk so infiziert von der Stimmung im Land, dass es nahezu
vollständig an die Urne ging: 91,1 Prozent Wahlbeteiligung wurden
verzeichnet. Bis heute ist das Rekord.
Heute gehen Wahlforscher bei Bundestagswahlen von bis zu 20 Prozent
Wahlabstinenten aus. Weil sie aber nicht wissen, welcher
Gesprächspartner zur Wahl geht, befragen sie auch Menschen, die ihre
Stimme dann gar nicht abgeben. Vorab herausfiltern, damit sie nicht das
Bild verzerren, lassen die sich kaum. Die direkte Frage, ob jemand
wählen geht oder nicht, scheitert an der so genannten "Wahlnorm": Weil
Wählen als sozial erwünschtes Verhalten gilt, antworten auch
Nichtwähler häufig mit "Ja". Ein ähnliches Problem stellt sich bei der
Frage nach einem etwaigen Wahlerfolg rechtsextremer Parteien: "Die
wenigsten Rechtsaußen-Wähler outen sich", sagt der Berliner
Wahlforscher Oskar Niedermayer, "es besteht immer die Gefahr, dass
rechte Parteien viel mehr Stimmen bekommen als vorab geschätzt." Zwar
ist die Wahlforschung inzwischen dazu übergegangen, auch über Umwege zu
fragen - etwa indem Zustimmung zu rechen Aussagen abgefragt wird oder
"Könnten sie sich vorstellen, vielleicht auch einmal die NPD zu
wählen?". Aber, sagt Niedermayer: "Auch das ist schwierig. Die
Zustimmung zu rechten Positionen zieht sich seit Jahrzehnten quer durch
die Parteienlandschaft."
Viele entscheiden sich kurzfristig
Dazu kommt, dass das Wahlvolk immer wankelmütiger wird. Viele wissen
bis einen Tag vorher einfach nicht, ob sie wählen gehen. Vor allem die
Zustimmung zur SPD lag deswegen in den vergangenen Jahren in Umfragen
immer wieder einmal etwas niedriger als bei der Wahl. Unter
Wahlforschern gilt als ausgemacht, dass sie am meisten unter mangelnder
Mobilisierung leidet - oder am Ende doch noch von
Last-Minute-Anstrengungen profitiert. Das liegt daran, dass die
"Wahlnorm" in christlich-konservativen Kreisen bis heute stärker ist.
Wie es dieses Mal sein wird, wird der Wahlabend zeigen. Um Punkt 18
Uhr werden die ersten Prognosen über den Bildschirm flimmern. Die
unterscheiden sich von allen Umfragen qualitativ und quantitativ. Mit
Mühe wird bereits heute an der Zusammenstellung einer für den
Bundesdurchschnitt repräsentativen Stichprobe gearbeitet. Richard
Hilmer weist deswegen auch darauf hin, dass erst die Prognose am
Wahlabend den Namen wirklich verdient: "Alles andere sind
Stimmungsbarometer."
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