Unversöhnliches Nachwort

Die Stunde der Wahrheit - die Wahl - begeht der Wahlforscher in aufgeräumter Stimmung, etwas abgespannt durch die Strapazen des Wahlkampfes, aber innerlich gestärkt durch den erhöhten Umsatz. Das Resultat wird er versöhnlich wie ein Pastor und sprudelnd wie ein Fußballreporter präsentieren. Hat er - wie es in der letzten Zeit häufiger passierte - mit Dichtung und Gewichtung Pech gehabt, dann wird er an der Gewichtungsschraube weiterdrehen. Ist er mit der zuletzt verwendeten Gewichtung mal nicht auf die Nase gefallen, so wird er dies der neuen "Methode" zuschreiben. Weshalb sollte er sich die Freude mit der Einsicht vergällen, daß er versehentlich den Zufalls- und Interviewfehler weggewichtet hat? Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn...
So oder so: Die Lotterieschäden werden dafür Sorge tragen, daß unsere Gewichtungszauberlehrlinge nicht zur Ruhe kommen werden. "Die Rohzahlen waren oft genauer als die gewichteten Zahlen" klagte der Geschäftsführer von Basis-Research der Wirtschaftswoche (Nr.1/2, 2. Januar 1987).
Die Wahl wird man überstehen, der Konkurrenz ging es auch nicht besser. Ein Gang nach Canossa? Schon eher ein Einkaufsbummel ins nahegelegene Florenz. Und dann eine Erholungsreise an den Golf von Korinth, verbunden mit einem Kulturtrip zu den Tempeln in Delphi. Auf dem Flug von Mailand nach Athen schlägt man noch schnell im Reiseführer das Wissenswerte zum "Orakel von Delphi" nach:

"Delphi (7. Jh. v. Chr.) liegt am Südhang des Parnaß (2459 m), welcher im Altertum als Sitz des Gottes Apollo galt. Das Orakel Apollos war das berühmteste Orakel des Altertums. Seine große politische Bedeutung fällt in die archaische Zeit. Damals wirkte das Orakel auf die Verfassung der Städte, die Kolonisation und viele politische Unternehmen ein. Noch Platon erkannte Delphis Weisungen eine hohe Bedeutung für die staatliche Ordnung zu."

Die Ausführungen über den großen politischen Einfluß des Orakels bringen unsere Wahlforscher so richtig auf den Geschmack. Daß selbst Platon die Demoskopie und ihre Weisungen für das Wohl der Gemeinschaft und die Aufrechterhaltung der politischen Ordnung als segensreich betrachtete, macht unseren Wahlforschern wieder Mut. Welch gute alte Zeit! Anstatt sich wie bisher nach Fehlprognosen beim Nervenklempner auf der Couch psychisch wieder geradebiegen zu lassen, könnte man es mit einer Nachhilfestunde beim Orakel versuchen, das seine Kunst noch beherrschte.
Im Reiseführer erfährt man, wie die Prozedur beim Orakel vonstatten geht. Das Medium von Delphi war eine ältere Frau:

die Pythia

Nach einer Opfergabe nahmen die Pythia und ihre ratsuchenden Klienten ein gemeinsames Bad in dem kastalischen Springbrunnen, wo ihr die Probleme vorgelegt wurden. Nach diesem Ritual ging sie in den Tempel und begann mit der Meditation. In ihrem veränder- ten Bewußtseinszustand fing die Pythia zu sprechen an. Ihre Wahrsprüche wurden den Ratsuchenden nicht direkt mitgeteilt, sondern sie wurden von Priestern interpretiert und in kunstvollen Versen niedergeschrieben, deren Auslegung nicht immer einfach war.

Auf der Fahrt nach Delphi beraten unsere Wallfahrer, was sie der Orakelpriesterin Pythia als Opfergabe darbieten könnten. Sie einigen sich auf ein Wertpapier und legen ihre letzte Prognose auf den Altar. Vom Schatzmeister des Tempels nach Nominal- und Kurswert befragt, meinen sie, solche Papiere würden selten zum Nennwert genommen und die Kotierung an der Gerüchtebörse sei erst kürzlich erfolgt. Entscheidend sei aber der innere Wert, und der Selbstkostenpreis habe fast 100 000 DM betragen. Der Schatzmeister meint sachlich aber höflich, der Altar sei keine Endlagerungsstätte und fünf Mark in bar wären ihm lieber. Nach dieser Dusche haben unsere Wahlkampfhelden keine Lust mehr auf ein Bad im Nymphen-Springbrunnen, und die Pythia verlegt die Reinigungsprozedur in die Sauna. Dort tragen sie ihr mit bewegten Worten die Klage über die Krankheit des repräsentativen Querschnittes vor:

seine Wankelmütigkeit!

Den Wahrspruch der Pythia am nächsten Morgen:

- Achte das Einmaleins der Statistik -

haben unsere Wahlforscher bis heute nicht enträtselt. Als Datenhändler hat man nicht viel Zeit zur Muße. Auch werden sie den Verdacht nicht los, daß die Pythia sie im Dampfbad mit der Konkurrenz aus 'Wetten daß...' verwechselt hat. Wie dem auch sei, solange unsere Polit-Wetterfrösche für ihre gewichteten Lottozahlen reißenden Absatz finden und jedermann - von Politikern bis hin zur Regenbogenpresse - diesem Zahlen-Horoskop hörig ist, verhallt der Wahrspruch der Pythia ungehört. Man kann von unseren Datenhändlern - Kreuzritter für freies Unternehmertum - auch nicht erwarten, daß sie sich freiwillig in den eigenen Speck schneiden. Das gehört nicht zu den Spielregeln einer Narren-freien Marktwirtschaft.
In Meinungsforschungskreisen ist die Pythia vom Bodensee eine berüchtigte Institution. Es handelt sich dabei aber nicht um eine Reinkarnation der Pythia in unserem Jahrhundert, sondern um den Kosenamen von Frau Prof. Dr. Dr. h.c. Noelle-Neumann im geweihten Blätterwald. Daß zwischen den beiden Damen Welten liegen, oder, wie wir in der Schweiz zu sagen pflegen, sie ihr Heu nicht auf der gleichen Bühne haben, geht auch aus dem 'Wahr'spruch der Pythia vom Bodensee

Die Schweigespirale, Öffentliche Meinung - unsere soziale Haut

hervor, der mit dem Einmaleins der Statistik auf Kriegsfuß steht, soweit es die Anwendung auf die Gegenwartspolitik betrifft.
In den Auswirkungen auf die Staatspolitik ist jedoch eine gewisse Parallelität zwischen den beiden Damen unverkennbar. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, daß Platon der Pythia vom Bodensee die Prozentzahlen ebenso aus der Hand gefressen hätte wie Helmut Kohl.

Fritz Ulmer

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