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Fritz Ulmer, Schweizer Mathematiker und Statistik-Professor, rechnet schonungslos mit den Demoskopen ab:

"Wahlprognosen sind Täuschung"

"Wahlprognosen sind keine Orientierungshilfe für den Wähler, sondern Täuschung, denn sie werden systematisch gefälscht." Das sagt der an der Wuppertaler Universität lehrende Schweizer Mathematiker und Statistik-Professor Fritz Ulmer im Interview mit unserer Zeitung. Mit exakten Prozentzahlen für SPD, CDU, FDP, Grüne und SSW nach Befragungen werde eine "unerreichbare Genauigkeit" vorgetäuscht, sagt Ulmer. Die Umfragefehler führten oft zu eklatanten Fehlprognosen, wie z. B. bei der letzten Landtagswahl in Schleswig-Holstein. Für Meinungsforscher ist Ulmer der Demoskopie-Schreck schlechthin, und es wurde versucht, ihn mit einer Klage auf 500000 Mark Buße oder zwei Jahre Haft zum Schweigen zu bringen. Aber sie blitzten vor dem Oberlandesgericht Hamburg ab.

Herr Ulmer, die Ergebnisse bei Landtagswahlen - auch in Schleswig-Holstein - wichen oft markant von den veröffentlichten Prognosen der Meinungsforscher ab. Überrascht Sie das?
Prof. Ulmer: Nein! Oft entscheiden wenige Prozente oder gar Bruchteile von solchen die Wahl, man denke an die 5-Prozent-Hürde. Diese Feinheiten kann man mit einer handelsüblichen Umfrage von 500 bis 2000 Interviews nicht messen.

Was machen denn die Meinungsforscher falsch?
Prof. Ulmer: Der Wurm liegt im sogenannten repräsentativen Querschnitt. Den gibt es nämlich gar nicht! Es ist unmöglich, aus allen Wahlberechtigten eine Gruppe von 500 bis 2000 Personen auszuwählen, die dann repräsentativ für alle sind. Das geht auch nicht mit 10000.

Aber die Meinungsforscher machen dies doch laufend. Wie kommen sie denn zu ihren so genannt repräsentativen Wahlberechtigten?
Prof. Ulmer: Für eine handelsübliche Umfrage nehmen sie Telefonbücher und suchen darin zufällig 1000 Nummern aus. Sie rufen an und fragen die Leute. Falls niemand zu Hause ist oder die Person das Interview verweigert, dann wird eine andere Nummer ausgelost bis 1000 Antworten vorliegen.

Egal ob Männlein oder Weiblein, Angestellter oder Bierbrauer? Beamter oder Rentner? Und das Alter? Das Einkommen? Die Konfession?
Prof. Ulmer: Das steht ja nicht im Telefonbuch. Auch ist die Wahlberechtigung des Angerufenen nicht vermerkt. Die Telefonnummern sind in Datenverarbeitungsanlagen gespeichert, und die Auslosung erfolgt per Computer wie bei einer Landeslotterie.

Das heißt aber, dass die Umfrageresultate vom Zufal1 abhängen! Sind sie mit Lottozahlen vergleichbar?
Prof. Ulmer: Nicht ganz, auch wenn das manchmal nach Wahlen so aussieht.

Sind Meinungsforscher Lottospieler?
Prof. Ulmer: Nein. Demoskopen verdienen immer. Das Risiko tragen die Dummen, die den ihren Zahlen unbesehen Glauben schenken.

Sabine Christiansen hat eigens für ihre Talk-Show in der ARD mit Politikern am letzten Sonntag eine Meinungsumfrage in Auftrag gegeben. Die Frage war, ob der Rücktritt von Schäuble in Schleswig-Holstein etwas bewirkt habe. Ihre neuesten Zahlen:

SPD 44 Prozent
CDU 34 Prozent
FDP 8,5 Prozent
Grüne 5,5 Prozent
SSW 4 Prozent

Volker Rühe meinte, die CDU hätte seit der letzten Umfrage 0,5 Prozent pro Tag gewonnen - und das werde bis zu den Wahlen so weiter gehen. Sabine Christiansen neckte Gesundheitsministerin Fischer mit dem Kommentar über die Zitterpartie der Grünen. Ferner wurde gesagt, die Grünen seien wegen der Zweitstimmen-Kampagne auf 5,5 Prozent gestiegen und die Wahlbeteiligung mit 69 Prozent fast unverändert. Was ist davon zu halten? Wie groß ist die Chance, dass eine solche Prognose richtig ist?
Prof. Ulmer: Sabine Christiansen versucht sich offenbar als Kaffeesatzleserin zu etablieren. Diese Prognose ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent falsch.

Das ist ja unglaublich. Wie können Sie das beweisen?
Prof. Ulmer: Es werden jeweils 1000 Wahlberechtigte ausgelost. Man kann nun auf dem Computer sehr viele Auslosungen durchführen. Dann sieht man, dass nur einer von 1000 ausgelosten repräsentativen Querschnitten die Eigenschaft hat, das Wahlergebnis so genau zu treffen, wie dies durch die Darstellung des Umfrageergebnisses suggeriert wird, d. h. die großen Parteien auf ein Prozent genau, die kleinen auf ein halbes. Die Computersimulation zeigt auch: Es ist ganz normal, dass ein ausgeloster repräsentativer Querschnitt für mindestens eine Partei markant vom Sollwert abweicht.

Was heißt normal und was heißt markant?
Prof. Ulmer: Normal heißt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent und markant heißt eine Abweichung vom Sollwert von mindestens 2,7 Prozent für eine große oder mindestens 1,4 Prozent für eine kleine Partei.

Eine Prognose, die mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent falsch ist, hat keinen Sinn. Kann man die Chance nicht verbessern?
Prof. Ulmer: Ja schon. Aber dann muss man große Abstriche bei der Genauigkeit für die Parteistärken machen. Soll die Prognose mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent richtig sein - das ist der übliche Standard - dann kann ein Meinungsforscher die großen Parteien nur noch mit einer Genauigkeit von rund ± fünf Prozent angeben und die kleinen mit ± zweieinhalb Prozent. Mit anderen Worten, Sabine Christiansen hätte ihre Prognose wie folgt plakatieren müssen:

SPD 39 bis 49 Prozent
CDU 29 bis 39 Prozent
FDP 6 bis 11 Prozent
Grüne 3 bis 8 Prozent
SSW 1,5 bis 6,5 Prozent.

Das ist absurd. Damit wird nichts mehr ausgesagt.
Prof. Ulmer: Das ist der Grund, warum das nicht gemacht wird. Eine Meinungsumfrage ohne Angabe von Genauigkeit und Wahrscheinlichkeit für ihre Richtigkeit ist so irreführend wie die Behauptung einer Landeslotterie, durch den Kauf von Losen werde man Millionär. Die Prognose-Show von Sabine Christiansen ist Zahlenprostitution. Infratest hat ihr splitternackte Prozentzahlen zugehalten, die sie flugs in eine Einschaltquote von rund 2,5 Millionen Zuschauern umgemünzt hat.

Sind sich Sabine Christiansen und Infratest bewusst, dass Wähler mit solch pseudoexakten Prognosezahlen an der Nase herumgeführt werden?
Prof. Ulmer: Da bin ich ziemlich sicher. Sabine Christiansen hat Infratest mit der Umfrage beauftragt. Auf deren Homepage http://www.infratest.de kann man nachlesen, dass bei 1000 Interviews die Fehlermargen für große Parteien ±3,1 Prozent und für kleine ±1,4 Prozent betragen. Das ist zu klein Infratest leidet an Rechenschwäche. Aber selbst eine Prognose der Form SPD 41-46 Prozent, CDU 31-37 Prozent, FDP 7-10 Prozent, Grüne 4-7 Prozent, SSW 2,5-5,5 Prozent hätte bei Politikern und bei Zuschauern Kopfschütteln ausgelöst.

Dann haben Umfrageergebnisse wegen des Lotterie-Effektes keine Aussagekraft?
Prof. Ulmer: Nein, das kann man so nicht sagen. Das hängt von der Fragestellung ab. Sabine Christiansen hat auch die Frage untersuchen lassen, ob die CDU-Spendenaffäre die Wahlentscheidung beeinflusse oder nicht. Mit Ja antworteten 36 Prozent, mit Nein 63 Prozent. Auch bei Berücksichtigung der lotteriebedingten Fehlermarge resultiert daraus eine sinnvolle Aussage: 30 bis 40 Prozent glauben dies und 60 bis 70 Prozent nicht. Auf ein paar Prozente kommt es nicht an. Die große Mehrheit glaubt dies nicht.

Welchen Stellenwert haben Trendmeldungen, z. B. die - CDU habe ein Prozent zugelegt, die Grünen hätten mit 5,5 Prozent die 5-Prozent-Hürde geschafft und die Wahlbeteiligung sei mit 69 Prozent fast unverändert?
Prof. Ulmer: Aussagen über das zeitliche Auf und Ab im Vorfeld einer Wahl werden durch die Überlagerung von Pseudotrends unmöglich gemacht. Es werden nämlich zwei Prognosen verglichen, die beide mit Fehler behaftet sind und diese können sich addieren. Dies führt dazu, dass auch dann wenn sich nichts verändert hat, markante Sprünge in den Parteistärken auftreten können. Umgekehrt können tatsächliche Veränderungen durch entgegengesetzte Lotterieschäden ausgelöscht werden. Trendmeldungen der Meinungsforscher haben deshalb ungetrübten Horoskopcharakter.

Wovon hängt die Fehlermarge bei Meinungsumfragen ab?
Prof. Ulmer: Soweit es die Lotterieschäden betrifft, primär von der Anzahl der Interviews. Aber auch die Anzahl der Parteien und der gestellten Fragen in der Umfrage beeinflussen die Größe der lotteriebedingten Umfragefehler.

Könnte man die Fehlermarge auf ein Prozent verringern?
Prof. Ulmer: Theoretisch ja, praktisch nein. Wenn man hunderttausend Wahlberechtigte befragte, dann könnte man die durch Auslosung bedingten Fehler unter ein Prozent bekommen. Aber die Lotterieschäden stellen nicht die einzige Fehlerquelle bei Umfragen dar. Die Meinungsforscher verschweigen, dass sie von über 50 Prozent der Angerufenen keine Informationen bekommen, weil sie nicht zu Hause sind oder das Interview verweigern oder noch nicht sicher sind. Diese Ausfallquote von über 50 Prozent ist die eigentliche Achillesferse jeder Meinungsumfrage. Hinzu kommt, dass die Interviewten nicht wahrheitsgemäß antworten müssen. Zum Beispiel gehört nach dem Spendenskandal schon eine Portion Mut, sich öffentlich am Telefon zur CDU zu bekennen; in der Wahlkabine fallt dieser Meinungsdruck weg. Diese Fehlerquellen werden von den Lotterieschäden überlagert. Der Gesamtfehler ist deshalb nicht mehr quantifizierbar.

Warum dürfen Meinungsforscher nicht andere befragen, um diese Ausfälle zu kompensieren?
Prof. Ulmer: Das machen sie natürlich immer. Aber dies ist nicht erlaubt, weil die Interviewverweigerer, die schwer Erreichbaren und die Unentschlossenen trotzdem zur Urne gehen können. Und diese demoskopischen Abstinenten haben keinen Grund so zu wählen, wie diejenigen, die zu Hause gespannt auf den Anruf des Meinungsforschers warten, um ihm den ausgefüllten Stimmzettel vorzulesen. Es ist diese schweigende Mehrheit, die zum Trojanischen Pferd so mancher Umfrage wird. Aber diese wird bei der Präsentierung der Resultate unter den Teppich gekehrt, sie wird einfach totgeschwiegen. Das ist der große Betrug der Demoskopen. Denn auf diese Weise wird die Grundvoraussetzung für die Aussagefähigkeit einer Meinungsumfrage zerstört, nämlich dass jeder Wahlberechtigte die gleiche Chance hat, in den repräsentativen Querschnitt zu kommen.

Beeinflussen Prognosen die Wähler?
Prof. Ulmer: Natürlich. Wähler gehen z. B. nicht zur Urne, weil sie glauben, die Wahl sei schon gelaufen. Vor allem aber werden taktische Wähler beeinflusst. Wird z.B. eine kleine Partei an der 5-Prozent-Hürde porträtiert - wie z.B. jetzt die Grünen - dann werden dadurch taktische SPD- Wähler mobilisiert, durch ihre Zweitstimme den Grünen zu helfen. Dasselbe konnte man bei Bundestagswahlen sehen, wo die FDP laut Prognosen mit der 5-Prozent-Hürde kämpfte. Da wurden CDU-Leihstimmen aktiviert. Wird eine Partei in der Nähe der absoluten Mehrheit prognostiziert, dann laufen ihr taktische Wähler davon und stimmen für den jeweiligen Koalitionspartner. Absolute Mehrheiten sind verpönt.

Manipulieren Meinungsforscher Umfragen, um politische Wirkung zu erzielen?
Prof. Ulmer: Das wird oft behauptet, aber das glaube ich nicht. Meinungsforscher wollen primär mit ihren Prognosen richtig liegen. Das ist für sie die beste Reklame im kommerziellen Umfragegeschäft, mit dem der Hauptteil des Umsatzes erzielt wird. Ihr Dilemma besteht darin, Umfragen wegen der großen politischen Stabilität in Deutschland keine brauchbaren Aussagen liefern können. Die Änderungen von Wahl zu Wahl sind oft kleiner als die Lotterieschäden von Umfragen. Deshalb werden bei der Sonntagsfrage Ergebnisse zurechtgebogen, die nicht plausibel erscheinen. Die Meinungsforscher trauen ihren eigenen Daten nicht! Die bekannteste Meinungsforscherin in Deutschland, Frau Noelle-Neumann, hat sich öffentlich damit gebrüstet, dass sie ihre Umfrageergebnisse bis zu zehn Prozent abändert, bevor sie die Öffentlichkeit damit beatmet. Man nennt das politische Gewichtungskunst.

Haben Sie Ärger mit Meinungsforschern bekommen?
Prof. Ulmer: Man hat mir oft mit Prozessen gedroht und mich verunglimpft. Meine Broschüre vor der Bundestagswahl 1994 - der Dreh mit den Prozentzahlen - hat die Meinungsforscher des ZDF so in Rage versetzt, dass sie versuchten, mich mit einer 500000 Mark Klage platt zu machen. Nach zwei Prozessjahren darf ich weiterhin die frohe Botschaft verbreiten, dass im ZDF von 1986 bis 1994 in 85 Prozent der Fälle die Ergebnisse bei der Sonntagsfrage geschönt waren.

Und wie es mit den anderen Medien, ARD, Spiegel usw.?
Prof. Ulmer: Wenn Sie bedenken, dass die in den Medien kolportierten Prognosen bei der Sonntagsfrage oft wie ein Ei dem anderen gleichen - was schon wegen der Lotterieschäden unmöglich ist - dann können Sie die Frage selbst beantworten.

Wie wird die Wahl am nächsten Sonntag ausgehen?
Prof. Ulmer: Das möchten alle gerne wissen, aber leider bin ich kein Prophet. Das werden die Wähler entscheiden.

Und wenn die Prognosen diesmal richtig sind?
Prof. Ulmer: Das ist nicht unmöglich - auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn.

Was empfehlen Sie den Wählern in Schleswig-Holstein?
Prof. Ulmer: Sich nicht von Prognosen beeinflussen zu lassen, sie sind keine Orientierungshilfe, sondern Wählertäuschung. Man soll an die Urne gehen und so wählen, wie man es für richtig hält.

Was ist die Moral von der Geschichte?
Prof. Ulmer: Wir leben im Zeitalter der Zahlengläubigkeit. Alles soll mit Zahlen objekitviert werden. Es wird nicht gefragt, wie sie zu Stande kommen. Der unersättliche Appetit und das Unwissen der Zahlen-Hungrigen bescheren den Datenfabrikanten Betriebsamkeit und einen herrlichen Lebensunterhalt. Warum sollten sie sich freiwillig in den eigenen Speck schneiden? Das gehört nicht zu den Spielregeln einer freien Marktwirtschaft. Die Medien sind nicht an Aufklärung interessiert, sie sind vielmehr die Zuhälter bei der Zahlenprostitution. Der Konsument muss lernen, wo die Aussagekraft der Zahlen endet und die Manipulation beginnt.

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