Ein Abenteuer für Demoskopen

Zahlen-Prostitution im
Schweizer Fernsehen

Entzauberung der
Wahlbarometer-Show
Nationalratswahlen 2007

Apollo und das Orakel von Delphi

Für den Blick in die Zukunft wurden einst die Dienste von Orakeln, Auguren oder Vogelschauern in Anspruch genommen. Berühmt war das Orakel von Delphi, welches für den Gott Apollo amtierte und das Leben und die Politik der alten Griechen stark beinflusste. Es wurde vor allen wichtigen Unternehmungen (z.B. Kriege, Gründung von Kolonien) konsultiert und stellte einen bedeutenden politischen Faktor dar. Noch Platon erkannte Delphis Weisungen eine hohe Bedeutung für die staatliche Ordnung zu.
Die Ratsuchenden legten ihre Fragen der Orakelpriesterin Pythia vor. Diese sass auf einem Dreifuß über einer Erdspalte, aus der betäubende Gase aufstiegen. Vom Gott Apollo inspiriert verkündete sie in Trance ihre Wahrsprüche. Diese wurden von Priestern in kunstvollen, lakonischen und oft rätselhaften Versen festgehalten, deren Deutung nicht einfach war.
Dieses Problem gibt es heute nicht mehr. Denn moderne Orakel sind digitalisiert.

Demoskopisches Orakel

Meinungsforscher versorgen die Schar der Zahlen-Hungrigen mit exakten Prozentzahlen zur Sonntagsfrage "Wie würden Sie wählen, wenn schon am nächsten Sonntag Nationalratswahlen wären?" Durch die Angabe der Nachkommastelle wird die Zuverlässigkeit der Zahlen betont und ihre "Amtlichkeit" verbürgt.
Das Geschäft mit der Sonntagsfrage wird von drei Instituten betrieben - gfs.bern, isopublic und demoscope -, wobei gfs.bern die Szene klar dominiert. Gfs.bern führte in diesem Jahr acht grossangelegte Umfragen durch. Gfs.bern brüstet sich damit, dass es 2000 Wahlberechtigte befragt und nicht bloss 1000 wie die Konkurrenz. Deshalb seien die Zahlen von gfs.bern genauer. Die Berichterstattung über die Aktivitäten von gfs.bern erfolgt im Schweizerischen Fernsehen in einer eigens dafür geschaffenen Sendung "Wahlbarometer" (analog dem Politbarometer im ZDF). Die ganze Nation wird in den Nachrichtensendungen Tagesschau und 10 vor 10 darüber informiert. Auch im Internet hat gfs.bern gewaltige Deponien aufgebaut. Allein für das Wahlbarometer 2007 lagern dort über 500 Seiten. Kommandant von Gfs.bern ist der bekannte Politikwissenschafter Claude Longchamp, der regelmässig im Fernsehen als Wahlberichterstatter auftritt. Deshalb wird hier primär die Tätigkeit von Claude Longchamp und gfs.bern unter die Luppe genommen.
Auch wenn demoskopische Wahrsprüche nicht mehr in kunstvollen und lakonischen Versen daherkommen - sondern als Plaudereien in Boulevard-Prosa und auf Endlos-Papier -, so entfalten sie dennoch eine enorme politische Wirkung. Mit Schlagzeilen wie im 7. Wahlbarometer "FDP wird von CVP bedroht" wird für die beiden FDP-Bundesräte die Frage von "Sein oder Nichtsein" kreiert. Allzu tragisch sollten die FDP-Herren Couchepin und Merz dies nicht nehmen. Orakel sind nun einmal launenhaft. Im Juli hatte sich das Wahlbarometer die SP als Prügelknaben vorgeknüpft, aber schon im August wurde Genosse Fehr rehabilitiert. Im 1. Wahlbarometer hatte die CVP ihr hundsmiserables Wahlresultat von 2003 noch unterboten, aber nach dem 7. und 8. Wahlbarometer könnte sie sich bald auf zwei Stühlen im Bundesrat breit machen - dank ihrem Vorsprung von sagenhaften 0,4 Prozent auf die FDP. Im 9. und letzten Wahlbarometer wurde wieder der Gleichstand ausgerufen. Aber damit ist die vom Zaun gerissene Debatte natürlich nicht vom Tisch.

Von Apollo zum Gott "Zufall"

Wohlbemerkt: Mit seinen Kapriolen erfüllt das moderne Orakel die ihm gestellten Aufgaben tadellos. Mit der Digitalisierung ging nämlich ein Wechsel des Arbeitgebers einher. Es amtet heute nicht mehr für Apollo, sondern für den Gott "Zufall". Zu seinen Amtspflichten gehört die Erstellung von "repräsentativen Querschnitten" von Wahlberechtigten. Hierzu "engagiert" Claude Longchamp die Landeslotterie, die ihm ein paar Tausend Telefonnummern auslost. Diese werden von seinen Interviewern angerufen und abgehorcht. Natürlich sitzt Claude Longchamp nicht auf einem Dreifuss über einer Erdspalte wie seinerzeit die Pythia. Er atmet auch keine betäubenden Gase ein, um demoskopische Wahrsprüche zu halluzinieren. Er brütet über ausgefüllten Fragebögen (die stark linkslastig sind) und versucht die tatsächliche politische Windrichtung auszumachen. Er inhaliert die Ausdünstungen der Parteien über einem Glas Blauburgunder und verfolgt gespannt die politischen Ereignisse wie die Strassenkrawalle in Bern. Wie lässt sich das alles "wissenschaftlich" unter einen Hut bringen und in vermarktbare Prozentzahlen mit Nachkommastelle umsetzen? Sein oberstes Ziel ist, mit seinen Zahlen richtig zu liegen - und Fehlprognosen möglichst zu vermeiden. Aus schmerzhafter Erfahrung weiss er, dass "repräsentativ ausgesuchte" Wahlberechtigte denkbar schlechte Ratgeber sind. Sie haben Schlagseite nach links und sind hochgradig wankelmütig. Von einer Umfrage zur nächsten werden sie leicht fahnenflüchtig. Als Retter in der Not erweist sich da die politische Stabilität. Das letzte Wahlresultat liefert stets die beste Vorlage dafür, wie die neuen Umfragezahlen in etwa auszusehen haben. Die ungeniessbaren aktuellen Umfrageergebnisse werden entsorgt. Sie dienen allenfalls als Windrichtung für die Fortschreibung.
Wegen der Auslosung von Telefonnummern hängt dem "repräsentativen Querschnitt" der Stallgeruch einer Lotterie an. Einem gutgläubigen Konsumenten von Meinungsumfragen dürfte das penetrant in die Nase stechen. Er würde sich die Frage stellen, was das denn für die Parteistärken zur Folge hat. Denn für ihn ist "repräsentativ" in etwa das pure Gegenteil von Lotterie. Um ihn nicht unnötig zu beunruhigen, wird im Fernsehen die Mitarbeit der Landeslotterie konsequent verschwiegen. Die ausgelosten Wahlberechtigten werden ihm als "repräsentativ" unter die Haut geritzt.
Orakel von DelphiOrakel Orakel vom Wahlbarometer
Longchamp

Parteistärken von der Landeslotterie?

Ganz so schlimm ist es nicht. Aber der Effekt der Zufallsauswahl ist bei handelsüblichen Wahl-Umfragen dramatisch und jedenfalls weit grösser als Meinungsforscher wie Claude Longchamp behaupten. Die Vorstellungen in der demoskopischen Zunft über die Grösse der "Lotterieschäden" (und insbesondere deren Häufigkeit) basieren auf Wunschdenken und einer statistischen Milchmädchenrechnung. (Diese geht von einem falschen Modell aus, nämlich der Binomialverteilung. Richtig wäre die Multinomialverteilung, die zu grösseren Fehlerbereichen führt). Trotzdem weiss Claude Longchamp sehr wohl - das kann man seinen Wahlbarometer-Präsentationen im Internet entnehmen -, dass er mit Umfragen keine gesicherten Prozentzahlen produzieren kann, von Nachkommastellen ganz zu schweigen. Claude Longchamp erteilt sich die Absolution für sein Tun gleich selbst, indem in die prunkvollen Wahlbarometer-Grafiken klammheimlich die Floskel "Fehlerbereich +/- 2.2%" im Miniaturformat eingeschmuggelt wird, die praktisch nur für geistesgegenwärtige Zuschauer mit Teleskopaugen wahrnehmbar ist. Natürlich wird im gesprochenen Text am Fernsehen nicht auf den Fehlerbereich hingewiesen. Dafür werden in der Tagesschau, in 10 vor 10 und in der anschliessenden Wahlbarometer-Show feierlich Nachkommastellen zelebriert und tolle Geschichten darum gesponnen. Denn Klartext wie

Die SVP schwingt oben auf. Sie verbessert sich von 26,7% auf irgendwo zwischen 25,1% und 29,5%
Die SP ist eine grosse Verliererin. Sie verschlechtert sich von 23,3% auf irgendwo zwischen 19,5% und 23,9%
Die FDP ist die grösste Verliererin. Sie verschlechtert sich von 17,3% auf irgendwo zwischen 13,3% und 17,9%
Die CVP hat die FDP eingeholt. Sie verbessert sich von 14,4% auf irgendwo zwischen 13,2% und 17,6%
Die Grünen sind die grossen Sieger. Sie verbessern sich von 7,4% auf irgendwo zwischen 7,8% und 12,2%

wäre in auch in Seldwyla undenkbar.

Ausmaß der Lotterieschäden

Für gestandene Demoskopen ist der Begriff "Lotterieschäden" nicht nur das Unwort des Jahres, sondern ihrer Karriere. Denn Zufallsauswahl ist für sie ein Qualitätsmerkmal und hat mit "Schäden" nicht das Geringste zu tun. Man spricht daher gelehrt von "Vertrauenintervall" oder allenfalls von Fehlerbandbreite. Das demoskopische Gütezeichen verbürgt, dass die auf der Basis einer Meinungsumfrage gemachten Aussagen mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% richtig sind. Darauf legt Claude Longchamp besonderen Wert und er hat dafür auf seiner Internet-Plattform eigens einen Fehlerquotenberechner installiert.
http://www.gfsbern.ch/online-dienste/fehlerquoten.php
Da stellt sich dem Laien und dem Fachmann die Frage: Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass seine Aussage im letzten Wahlbarometer

SVP kommt auf 27,3%, die SP auf 21,7%, die FDP auf 15,5%, die CVP auf 15,4% und die Grünen auf 10,0% usw.

richtig ist? Die ernüchternde Antwort ist: Praktisch Null, die Aussage ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch. Man kann mit einer Meinungsumfrage nun einmal nicht Parteistärken auf Promille genau angeben. Das ist ungefähr so, wie wenn man auf einer Sonnenuhr Sekundenbruchteile abliest. Das weiss jeder (bzw. kann es nachrechnen), der eine Anfängervorlesung in Statistik besucht hat. Auch Angaben auf ganze Prozent genau - d.h. Fehlerbereich +/-0,5% - sind eine Illusion, denn dafür müsste man über 80000 (achtzig Tausend) Wahlberechtigte befragen, vorausgesetzt dass die Hälfte davon stimmwillig ist und sich auf eine Partei festgelegt hat. Selbst bei einem Fehlerbereich von +/- 1%, was zu vagen Aussagen der Form

SVP 26-28%, SP 21-23%, FDP 14-16%, CVP 14-16%, Grüne 9-11%

führt, sind diese mit einer Wahrscheinhlichkeit von 95% falsch, m.a.W für mindestens eine Partei liegt der richtige Wert ausserhalb des Fehlerbereiches von +/-1% (bei 2000 Befragten und einer 50%-igen "Wahlbeteiligung"). Erst unter Einbezug eines Fehlerbereiches von +/-2.2% kommt es zu einer "vernünftigen" Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der Aussage. Diese ist aber weit entfernt von den im Umfragegeschäft propagierten 95%. Dafür müsste Claude Longchamp seinen Fehlerbereich mindestens verdoppeln, d.h. auf +/- 4,4%. Das wird im Abschnitt Exkurs in die Statistik erklärt und allgemeinverständlich bewiesen.
Nota bene: Dieser Fehlerbereich deckt lediglich die durch die Zufallsauswahl verursachten "Lotterieschäden" ab. Andere Fehlerquellen wie - Ungewissheit wer von den befragten Wahlberechtigten tatsächlich zur Urne geht, Auslandschweizer, Panaschierung, Nichterreichbarkeit bzw. Interviewverweigerung, Meinungsänderungen, falsche Angaben usw. -, sind dabei nicht berücksichtigt. Sie verursachen Abweichungen, die nicht quantifizierbar sind, sie dürften weit grösser sein als die Lotterieschäden. Allein die niedrige Wahlbeteiligung verursacht potentielle Fehler in einer anderen Dimension.
Natürlich denkt Claude Longchamp nicht im Traum daran, sich Lotterieschäden von +/- 4,4% auf die Fahnen zu schreiben. Denn mit Umfrageresultaten wie

FDP und CVP kommen beide neu auf 11 bis 20%

könnte er sein Meinungsforschungs-Institut dicht machen. .

 

Longchamps abstruse Rechtfertigung

Claude Longchamp behauptet in den vielen Internet-Präsentation seines Wahlbarometers von 2003 bis 2007 durch die Bank:

1. Der maximale Fehler für Parteistärken ist +/-2.2%.

2."Dieser trifft aber nur mit einer geringen Wahrscheinlichkeit ein. Jede geringere Abweichung ist dabei wahrscheinlicher."
Mit andern Worten, die im Wahlbarometer gemeldeten Parteistärken

SVP 27,3%, SP 21,7%, FDP 15,5%, CVP 15,4%, Grüne 10,0%

hätten die grösste Wahrscheinlichkeit, richtig zu sein. Zahlen, die davon abweichen, wie z B.

SVP 27, 5%, SP 22,1%, FDP 15,2%, CVP 15,6%, Grüne 10,4%

hätten eine geringere Wahrscheinlichkeit, richtig zu sein. Je grösser die Abweichung vom ermittelten Umfrageresultat, desto kleiner sei die Wahrscheinlichkeit, dass die Zahlen richtig sind. Abweichungen, die grösser als +/-2,2% sind, hätten die Wahrscheinlichkeit Null.
Das ist das einzige Argument in seinem tausendseitigen Wahlbarometer-Opus, welches als Begründung für die Weglassung der Fehlerbandbreite von +/-2,2% in der Präsentation der Ergebnisse herangezogen werden könnte.

1. Der maximale Fehler ist 100%!
Die Telefonnummern der befragten Wahlberechtigten werden ausgelost. Folglich ist es möglich, dass der Zufall Longchamp für die Umfrage lauter SVP-Anhänger oder lauter SP-Anhänger oder lauter FDP-Anhänger usw. beschert. Es ist sogar möglich, dass lauter PDA-Anhänger im Umfragenetz landen, ganz einfach weil es weit mehr PDA-Anhänger gibt als Longchamp für seine Umfrage Wahlberechtigte befragt. Das ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Es ist intuitiv klar, dass je mehr Wahlberechtigte ausgelost werden, desto unwahrscheinlicher ein solcher Extremfall wird. Aber offensichtlicht gibt es keinen maximalen Fehler - ausser 100%!

2. Noch absurder ist Longchamps Behauptung, von allen "möglichen" Zahlen hätten seine Umfrageergebnisse die grösste Wahrscheinlichkeit, richtig zu sein. Aus statistischer Sicht ist das genau so, wie wenn ein Schütze behauptet, die Einschussstelle seines abgefeuerten Schusses habe die grösste Wahrscheinlichkeit, sich exakt in der Mitte des Schwarzen zu befinden. Je weiter man sich von der Einschusstelle entferne, desto unwahrscheinlicher sei es, dass das Schwarze sich dort befinde (genauer dessen Mittelpunkt).... Und ausserhalb eines "Kreises mit Radius +/-2,2%" könne das Schwarze auf keinen Fall sein ....
Wie kann man einen Demoskopie-Schützen wie Claude Longchamp von dieser abstrusen Vorstellung abbringen? Man könnte versuchen, argumentativ die Bretter zu entfernen, welche Demoskopen vor dem Kopf haben. Aber der Author weiss aus zwanzigjähriger Erfahrung, dass das eine aussichtslose Sache ist. Fairer Weise ist zu sagen, dass nicht nur Claude Longchamp an dieser abstrusen Vorstellung leidet, es handelt sich um eine Art Berufskrankheit unter Meinungsforschern.

Erster therapeutischer Versuch

Als ersten therapeutischen Schritt könnte man versuchen, den Demoskopie-Schützen nochmals auf die Scheibe schiessen zu lassen (= erneute Umfrage). Weil dies fast zwangsläufig zu einer anderen Einschusstelle (=Umfrageresultat) führt, könnte man hoffen, dass ihm dadurch die Absurdität seiner Vorstellung vor Augen geführt wird. Aber das wird ihn nicht kurieren, im Gegenteil. Unser Demoskopie-Schütze dreht den Spiess gleich um und behauptet, die Scheibe sei vor der zweiten Schussabgabe verschoben worden (z.B wegen der Krawalle in Bern). Als "unwiderlegbarer" Beweis führt er just die Distanz zwischen den Einschusstellen (=Parteistärken) an .... Diese (die Einschusstellen) seinen nämlich beide Male in der Mitte des Schwarzen gewesen .... Und die Distanz zwischen den Einschusstellen zeige, um wieviel die Scheibe verschoben worden sei. Geschäftstüchtig wie Demoskopen nun einmal sind, wird das als Trend von einer Umfrage zur nächsten verkauft ...

Gehirnwäsche oder Zwangstherapie?

Um die Schutzbehauptung der Demoskopie zu entlarven, muss man die Scheibe im Boden einbetonieren und die Meinungsforscher auf Kurzarbeit setzen. Sie müssen keine Telefonnummern auslosen und Wahlberechtige anrufen lassen. Sie brauchen nicht herauszufinden, welche Wahlberechtigte tatsächlich wählen gehen und welcher Partei sie "hauptsächlich" ihre Stimme geben werden. Demoskopen müssen nicht mehr unglaubwürdige Umfrageresultate mit der recall-Gewichtung gerade biegen. Sie werden nur noch als Stimmenzähler eingesetzt. Die Auslosung wird der Landeslotterie übertragen.
Das wird mit einer Computer Simulation von Umfragen in Tat umgesetzt. Dazu denkt man sich alle "abgegebenen" Stimmzettel in eine riesige Urne (Los-Trommel) gelegt. Für jeden "Nichtwähler" oder "Unentschlossenen" wird ein leerer Stimmzettel eingelegt. Dann werden tausend oder zweitausend Stimmzettel für die erste Umfrage von der Landeslotterie aus der Trommel herausgeholt, von unseren demoskopischen Kurzarbeitern gezählt und wieder zurückgelegt. Dieser Vorgang wird mehrmals wiederholt. Die Resulate sind traumatisch für unsere demoskopischen Kurzarbeiter. Denn die Einschusstellen sind über die ganze Scheibe verstreut ...
Dann wird eine neue Serie von "Auslosungen" mit einer anderen Urne (Los-Trommel) gemacht, deren Inhalt etwas anders zusammensetzt ist (Parteistärken und Nichtwähleranteile ein paar Prozente mehr oder weniger). Dann werden unsere demoskopischen Kurzarbeiter dasselbe erleben. Die Einschusstellen sind wieder über die ganze Scheibe zerstreut.
Wer dieses Experiment mehrmals mit Urnen verschiedenen Inhaltes gemacht und die von der Zufallsauswahl verursachten Lotterieschäden verinnerlicht hat (insbesondere deren Häufigkeit), der wird zeitlebens kein Wahlbarometer mehr goutieren. Weil Meinungsforscher das ahnen, gehen sie Computersimulationen von Umfragen aus dem Wege wie der Teufel dem Weihwasser.

 

Longchamps Lachnummer

Der Schuh drückt bei Claude Longchamp woanders, nämlich bei der Vermarktung seiner Umfrage. Es ist ja nicht so, dass er unbekannte Grössen zu messen hat - wie es etwa bei der Beliebtheit eines Waschpulvers oder bei gewissen Ständeratswahlen der Fall ist, wo ein paar Prozente mehr oder weniger keine ausschlaggebende Rolle spielen. Bei den Nationalratswahlen hingegen steht das Wahlresultat von 2003 im Raum UND die historische Erfahrung, dass sich (zumindest bisher) von Wahl zu Wahl wenig verändert. Diese Vorgaben sind für jeden Demoskopen wie ein Strick um den Hals. Es wird von ihm erwartet, dass er nun Voraussagen über die geringfügigen Änderungen macht. Da ist ist er hoffnungslos überfordert, denn Meinungsumfragen sind ein viel zu ungenaues Instrumentarium. Wenn Claude Longchamp die Ergebnisse seiner Umfrage in wissenschaftlich (halb-)legitimer Form unter Einbezug der von ihm eingeräumten Fehlerbereiches +/-2,2%

SVP 25,1% - 29,5%, SP 19,5% - 23,9%,
FDP 13,3% - 17,7%, CVP 13,2% - 17,6%
, Grüne 7,8% - 12,2%

präsentiert, dann wirkt das grotesk. Würde es sich bei den Parteien um Waschmittel und deren Bekanntheitsgrad handeln, so könnte dieses Resultat durchaus eine nützliche Information darstellen. Weil dem (noch) nicht so ist, wird aus seinem Wahlbarometer eine Lachnummer:

 

Bundesrat Christoph Blocher - CH-Volkstribun, Schirmherr über schwarze Schafe (auch die eigenen), Kreuzritter und Märtyrer für Gewaltentrennung, und - last but not least - SVP-Reinkarnation von Wilhelm Tell - dürfte Longchamps Zahlen mit einem lachenden und einem weinenden Auge goutiert haben. Denn in der Hohlen Gasse von 25,1% bis 29,5% kann der Schuss auch nach hinten los gehen und das Wahlresultat von 2003 deutlich unterschritten werden. Am anderen Ende geht Ueli Maurers Traumziel von dreissig Prozent praktisch in Erfüllung. Ob CVP-Bundesrätin und CH-Merkantilistin Doris Leuthard den Spagat in einer Freihandelszone von 13,2% bis 17,6% noch schafft, dürfte selbst ihr unklar sein. Denn am untern Ende (13,2%) lauern die Grünen mit bis zu 12,2% und dürften gnadenlos an ihrem (Doris') rechten Stuhlbein im Bundesrat sägen. Am obern Ende (17,6%) wird sich die CVP-Strahlefrau auf zwei Sitzen im Bundesrat quer legen können, denn die FDP liegt mit 13,3% ko am Boden. Selbst für FDP-Chef Fulvio Pelli - dem grossen Verlierer und Prügelnknaben im September-Wahlbarometer - ist noch nicht aller Tage Abend. Der Dompteur Longchamp zeigt ihm zwar mit 13,3% die rote Karte, hält ihm aber gleichzeitig 17.7% unter die Nase, eine Verbesserung gegenüber dem Resultat von 2003. Zuckerbrot und Peitsche stehen auch für den SP-Chef bereit. Mit der Süssigkeit von 23,9% kann Genosse Fehr nicht nur das Resultat von 2003 verbessern, er folgt der SVP (25,1%) dicht auf den Fersen. Aber mit dem Peitschenhieb von 19,5% dürften seine Tage als Parteiboss gezählt sein.
Selbst die grosse Siegerin in der Wahlbarometer-Arena - die neu-grüne Helvetia Ruth Genner - dürfte mit Longchamps Verdikt nicht glücklich werden. Was soll sie damit anfangen? Sich in ein aufgescheuchtes Huhn verwandeln - natürlich gentechnischfrei - und gackernd zwischen 7,8% und 12,2% hin- und herflattern?. Oder zu einer Pythia mutieren und die Arbeit besser machen als Claude Longchamp?

Zahlenprostitution und Zuhälter

Claude Longchamp fabriziert Nachkommastellen denn auch auf ausdrücklichen Wunsch seines Brotgebers (SRG), wie er in seinem technischen Bericht winseld einräumt ("Dies geschieht auf ausdrücklichen Wunsch der SRG SSG hin". vergl. Seite 8. 2. Abschnitt wahlbaro07-102006-technik.pdf).
Im Umfragegeschäft gilt das eiserne Gebot der freien Marktwirtschaft: "Wes' Brot ich ess, des' Lied ich sing". Dabei geht der letzte Rest von Redlichkeit und Geschäftsprinzipien über Bord, die Longchamp im Wahlbarometer 2005 feierlich verkündete:


(Die Quelle war ursprünglich wahlbaro05-102005-praesentation.pdf, auf Seite 20. Doch dann entfernte Longchamp den Bericht von seiner homepage).

Die Zuhälter in Sachen Zahlenprostitution sitzen an den Schalthebeln im helvetischen Fernsehen. Für sie ist es eine Binsenwahrheit, dass nur splitternackte Prozentzahlen ohne Feigenblatt auf der Nachkommastelle dem Zuschauer jenen Lustgewinn bescheren, der die Einschaltquote warm hält. Mit dem Eingeständnis, dass man mit einer Umfrage nur lächerlich vage Aussagen wie "Die CVP kommt neu auf 13,2% bis 17,6% usw." machen kann, könnte Claude Longchamp weder in der Tagesschau noch in 10 vor 10 auf Sendung gehen. Wohl aber in Comedy - als angeheiterter Kumpel von Viktor Giacobbo.

Konzessionsverletzung der SRG

Die SRG verletzt mit ihrem Wahlbarometer klar den gesetzlichen Informationsauftrag (Art. 24 RTVG Absatz 4a). Dort ist die Rede von "umfassender, vielfältiger und sachgerechter Information, insbesondere über politische ... Zusammenhänge".
Claude Longchamp wurde von der SRG 2006 aufgefordert, für die Wahlbarometer-Serie erstmals Parteistärken mit Nachkommastellen abzuliefern ("Dies geschieht auf ausdrücklichen Wunsch der SRG SSG hin"). Dies, obwohl er die SRG 2005 ausdrücklich darauf hingewiesen hatte (wahlbaro05-102005-praesentation.pdf, Seite 20), dass die Angabe von Parteistärken in Promillen in Anbetracht des Fehlerbereiches von +/-2,2% reine Augenwischerei ist. (Tatsächlich ist der Fehlerbereich weit grösser als Claude Longchamp einräumt).
Bei der Präsentation der Parteistärken im Wahlbarometer, in der Tagesschau und in 10 vor 10 wird jedoch der gigantische Fehlerbereich im "Kleinstgedruckten" unter den Grafiken versteckt und im gesprochenen Text konsequent verschwiegen. Stattdessen schwelgt die SRG in Nachkommastellen und ihre Texter spinnen wie frisch gefütterte Seidenraupen tolle Geschichten um Longchamps neueste Zahlen herum. Diese haben angesichts der politischen Stabilität so gut wie keinen Informationswert: Kein Zuschauer würde sich für diese Zahlen interessieren, wenn ihm das Ausmass der Unsicherheit unmissverständlich vor Augen geführt würde. Und genau aus diesem Grund wird der Fehlerbereich vom Duo SRG & Longchamp wegretouchiert. Stattdessen wird die ganze Nation mit pseudoexakten Zahlen und Lotterie-Artefakten an der Nase herum geführt. Besonders verwerflich ist, dass dabei taktische Wähler in die Irre geleitet werden. De facto läuft das Verhalten der SRG auf Wählertäuschung hinaus.
Die SRG ist mit ihrer Wahlbarometer-Show massiv in den Wahlkampf eingestiegen, sozusagen als Partei in eigener Sache. Mit ihrem Zahlenzauber und Schaumschlägereien hat sie von den Sachthemen abgelenkt. Die SRG hat sicher nicht vorsätzlich für oder gegen eine Partei Stimmung gemacht. Aber wer mit Lotterie Allotria treibt und auf dieser Basis jede zweite Woche politische "Sieger" und "Verlierer" in der Wahlbarometer-Show ausruft und diese umgehend auf die Bühne zerrt und faktisch zwingt die neuesten "Lottozahlen" der SRG zu kommentieren - wie das in der Tagesschau, in 10 vor 10 und in der Arena mehrfach geschehen ist -, nimmt Stimmungsmache zumindest billigend in Kauf.

Romantische Ader

Auch die moderne Demoskopie hat eine romantische Ader. Wenn man sie fragt, wie ihre Zahlen zustande kommen, dann wird sie blumig, schwärmt von "repräsentativ" und schwelgt dabei in Unverbindlichkeit. Mit einer cleveren Auswahl - einem repräsentativen Querschnitt - lasse sich ein genaues Miniaturbild aller Wahlberechtigten erstellen. Damit könnten die aktuellen Parteistärken exakt gemessen werden. Hakt und hackt man nach und besteht auf nachprüfbaren Details, dann kneift die Demoskopenzunft mit einem Hexameter-Telegramm. Im Wahlbarometer der SRG lautet das so:
Technischer Kurzbeschrieb

 

SVP-Reinkarnation
von Wilhelm Tell