Amerika wählt am 2. November
 

Zahlenprostitution statt Wahlprognosen


Wie in Amerika aus unbrauchbaren Umfragedaten knallharte Prozentzahlen
gebacken werden. Das angebliche Kopf-an-Kopf-Rennen reflektiert nicht die
aktuellen Umfrageergebnisse, sondern die Ratlosigkeit der Meinungsforscher.

Will Kerry be amBushed? Or will Bush be Kerried away?


Ist Kerry in einen Hinterhalt von Bush geraten? Oder wird Bush von Kerry in letzter Minute hinweg gefegt - wie einst Nixon von Kennedy? Hat Kerry - der sich lange in alle Richtungen verneigte als wäre er aus Gummi -, in den Debatten sein Rückgrat wiederentdeckt und Überlegenheit demonstriert? Hat er damit Bush's Sprachlosigkeit vorgeführt? Oder wird es Bush mit seinem bibelfesten Patriotismus schaffen, Kerry als wankelmütigen und gottlosen Nestbeschmutzer ans Kreuz zu schlagen, der Amerikas Werte in Vietnam besudelt hat?

Der Kreuzritter aus Texas und seine "moralische Mehrheit"

Das sind Fragen, die ganz Amerika bewegen. Auch ein grosser Teil der Welt fiebert mit. Hat doch der Kreuzritter aus Texas sein Evangelium in die entlegensten Winkel der Erde getragen und versucht, seine Botschaft den Ungläubigen mit dem Schwert näher zu bringen. Wenn Bush auch nicht allzu viele Terroristen und Fundamentalisten bekehrt haben dürfte, hat ihm sein weltweiter Kreuzzug an der Heimatfront unbestreitbare Erfolge eingefahren. Er schweisste eine breite Koalition von unterschiedlichsten Gruppen zusammen - eine surrealistische "moralische Mehrheit" -, als deren Speerspitze er sich pausenlos profiliert. Das Spektrum reicht von engagierten Vaterlandverteidigern, fahnenschwingenden Veteranen, Haudegen und Antiterroristen über beflissene Kirchgänger und unzimperliche Abtreibungsgegner bis hin zu Fundamentalisten uramerikanischer Prägung und - last but not least - von selbstlosen Betuchten. Diese haben Bushs Kriegskasse für den Wahlkampf bis zum Überlaufen gefüllt und sich so für seine Steuergeschenke revanchiert - behaupten jedenfalls böse Zungen. Das wird von der "moralischen Mehrheit" als perfide Verleumdung hingestellt. Bush habe mit dem Steuersenkungsprogramm die Wirtschaft stimulieren wollen und nicht seinen Wahlkampf (vor)finanzieren.

Die Achillesferse aller Wahlumfragen: Die schweigende Mehrheit

Ob Bush's "moralische Mehrheit" am 2. November den Durchbruch schafft, ist allerdings höchst unklar. Aber nicht etwa, weil die Meinungsforscher auf der Zielgeraden ein Kopf-an-Kopf-Rennen angesagt haben. Sondern weil die reale "schweigende Mehrheit" in Umfragen nicht mehr richtig zu Worte kommt. Diese hat sich über die Jahre den Meinungsforschern immer mehr entzogen, sie ist "unerreichbar" geworden. Die Ausschöpfungsquote bei Wahlumfragen ist lächerlich klein, sie ist zur Achillesferse der Prognosen geworden! Um ein paar hundert Interviews (meist etwa 400-800) für eine Umfrage in einem Bundesstaat unter Dach zu bringen, müssen Tausende von Telefonnummern von Wahlberechtigten abgeklappert werden. Aus den unterschiedlichsten Gründen bleiben die meisten stumm, sie legen weder ein Bekenntnis für Bush ab noch schlagen sie eine Bresche für Kerry. Die Folge davon ist, dass der repräsentative Querschnitt verrückt spielt. Er gebärdet sich höchst "unrepräsentativ" und liefert erratische und unplausible Ergebnisse, mit denen die Meinungsforscher nichts anfangen können und die unmöglich an die Öffentlichkeit gebracht werden können. Daher werden die nackten Prozentzahlen (die sogenannten Rohdaten) "bereinigt" und "aufbereitet". Sie werden verschiedensten Waschprogrammen unterworfen und anschliessend neu eingekleidet. Erst dann sind sie medientauglich. Die veröffentlichten Zahlen beinhalten also nicht die Meinung der "schweigenden Mehrheit", sondern sie verkörpern die Spekulationen der Meinungs"forscher". Das angebliche Kopf-an-Kopf-Rennen wird in die Umfragedaten eingearbeitet! Das vollbringen die demoskopischen Zauberlehrlinge mit wehrlosen Programmen aus der Schatzkiste von SPSS (Statistical Package for the Social Sciences) und, wenn das nicht reicht, mit dem Vorschlaghammer. So oder so - das Pferd wird am Schwanz aufgezogen.